„Gefühle begleiten, was heißt das?“, denkst du vielleicht, wenn du die Überschrift liest. Oder daran, wie der letzte Wutanfall deines Kindes war und wie man so einen begleiten kann. Vielleicht denkst du aber auch, dass das wieder irgend so ein Spinner Trend ist, der sich eh wieder verflüchtigt. Ganz ehrlich, ich hoffe nicht, dass das so ist. Denn Empathie zu zeigen, Gefühle erkennen und benennen zu können ist wichtig für unsere Menschlichkeit und unsere Kommunikation.
Gefühle begleiten?
Was bedeutet das genau, die Gefühle zu begleiten? Gefühle begleiten heißt, die Kinder dort abzuholen, wo sie sind. Kleinere Kinder können ihre Emotionen noch nicht selbst regulieren. Sie haben noch keine Strategien, wie sie mit ihrer Wut, Trauer und so weiter umgehen. Das hängt mit ihrer Hirnreife und Entwicklung zusammen. Also brauchen sie uns Erwachsene um ihnen zu zeigen, wie sie damit umgehen können. Sie verlassen sich dabei auf uns. Kindliche Emotionen sind ungezähmt, alle Gefühle sind stark und unbeeinflusst da, sie wühlen die Kinder auf, blockieren das Sprachzentrum und nehmen die Kinder völlig ein. Kinder leben in ihrer Fantasiewelt, da kann das Heimgehen oder das zerrissene Blatt ein schlimmes Ereignis sein.
Dazu ein kleines Gedanken- und Gefühlsexperiment: Stell dir vor, du bist traurig. Dein*e Partner*in kommt und sagt: „Stell dich nicht so an, ist doch nicht schlimm!“ Was löst das in dir aus?
Nochmal: Du bist traurig. Dein*e Partner*in kommt, nimmt dich in den Arm und sagt: „Du bist traurig. Ich sehe dich und bin für dich da.“ Was löst das in dir aus?
Ich finde mich beim ersten Gedankenspiel übergangen und nicht ernstgenommen. Beim zweiten hingegen fühle ich mich wertgeschätzt. Genau das will ich meinen Kindern weitergeben, indem ich sie begleite. „Ich sehe, dass du wütend bist. Ich bin da, wenn du mich brauchst.“ Damit bringe ich meinem Kind Wertschätzung entgegen und begleite es auf Augenhöhe. Ich respektiere seine*ihre Gefühle, egal wie unbedeutend der Auslöser für mich ist. Wenn meine Lieblingstasse aus dem letzten Urlaub, die eben mehr als eine Tasse für mich ist, kaputt geht, dann bin ich traurig. Intellektuell weiß ich, dass es nur eine Tasse war, aber emotional war sie eben mehr. Und dann braucht die Traurigkeit ihren Raum und möchte gesehen werden. So ist es beim Kind auch: das zerrissene Bild, das auseinandergebrochene Duplokunstwerk oder das Weggehen vom Spielplatz – all das sind Situationen, die wahrgenommen werden möchten und die für Kinder emotional fordernd und kräftezehrend sind.
Kinder verlassen sich auf uns
Wir sind die Vorbilder der Kinder. Das ist eine enorme Verantwortung, denn wir prägen dadurch ihre Art, die Welt anzusehen. Zwar haben wir nicht unbedingt Einfluss auf ihre Persönlichkeit, denn Humor, Charakterzüge und ihr Wesen sind schon angelegt, doch unsere Glaubenssätze, unser Verhalten und unsere Weltanschauung beeinflussen die Entwicklung. Kinder spiegeln uns. Schlussendlich zeigen sie uns damit rücksichtslos, wo wir an uns arbeiten müssen und wo wir uns und unsere Überzeugungen hinterfragen sollten. Im Falle eines Wutanfalls lohnt es sich also zu fragen: „Warum möchte ich meinem Kind verbieten, seine*ihre Wut zu zeigen?“ Oft ist da der gesellschaftliche Druck im Hintergrund. Man ist ausgeglichen, zeigt seine Gefühle nicht. Man frisst die Wut in sich hinein. Man zählt bis 10, um sich zu beruhigen. Und dann? Dann sagen wir den Kindern: „Du darfst nicht wütend sein. Das ist falsch!“ Nichts anderes bedeutet: „Hör auf zu schreien! Ist doch nicht so schlimm! Stell dich doch nicht so an!“ Das Kind vertraut darauf, dass wir ihm die Gefühle erklären und ihm beibringen, damit umzugehen. Es lernt also: Mein Gefühl ist nicht okay. Wut ist falsch, denn sonst würden meine Eltern anders damit umgehen.
Und mal ganz ehrlich: So richtig befriedigend ist innerlich auf 10 zählen auch nicht, um Wut und die damit verbundene Energie abzubauen. Schreien, ins Kissen hauen, sich bewegen schon. Das erklären wir unseren Kindern ja auch. „Wenn du wütend bist, dann hau ins Kissen. Dann wird keiner verletzt und es ist okay.“ Doch wir leben etwas anderes vor. Kinder zu begleiten bedeutet für uns Erwachsene auch: Lerne wieder aufs Neue mit deinen Emotionen umzugehen. Denn nur dann können wir authentisch sein.
Kinder verlassen sich auf ihre Bezugspersonen. Das bedeutet, sie vertrauen darauf, dass diese für sie da sind. Sie vertrauen darauf, dass die Bezugspersonen gefestigt genug sind, sich mit ihnen zu verbinden und sich gleichzeitig zu distanzieren. Verbindung und Distanz – gleichzeitig? Ja. Kindern den Umgang mit ihren rohen, starken Emotionen beizubringen, heißt für sie da zu sein, das Gefühl zu benennen, es aber nicht zu unserem Gefühl zu machen. Wir sind der Wall, die Gefühle aufzufangen, sich abreagieren zu lassen und die Umwelt zu schützen. Und der Wall zwischen der Außenwelt und dem in den Emotionen gefangenen Kind. Wir schützen in beide Richtungen. Das ist unglaublich kräftezehrend, aber so kann das Kind dann lernen, sich zu regulieren. Indem wir dem Kind in Liebe begegnen, lernt das Kind genau das. Jede Emotion hat ihre Daseinsberechtigung und darf gefühlt werden. Die Liebe sieht das Gefühl an, lässt es zu, hört ihm zu, sieht es an und lässt es dann gehen. Nicht nur bei anderen, sondern auch bei sich selbst. Und die Gefühle meines Gegenübers gehören ihm*ihr. Ich als Mutter muss nicht wütend werden, weil mein Kind wütend ist. Ich muss nicht traurig sein, weil mein Kind traurig ist. Ich muss nicht fröhlich sein, weil mein Kind fröhlich ist. Ich darf sagen: „Du bist wütend, traurig, fröhlich, weil …“ Und dann halten wir die Wut, die Traurigkeit, die Freude aus.
Ich darf aber auch sagen: „Ich bin wütend, traurig, fröhlich, weil…“ Unsere Gefühle vor den Kindern zu verstecken, sie nicht auszuleben und zu artikulieren, hindert das Kind am Lernen. Was es nicht sieht und ihm nicht kommuniziert wird, kann es nicht lernen. Kinder wollen lernen, verstehen. Sie wollen wissen, wie die Welt funktioniert. Wir Menschen sind soziale Wesen, es ist also nur natürlich, dass Kinder lernen wollen, wie wir miteinander umgehen. Gehören Emotionen, egal welcher Art, nicht dazu? Warum verstecken wir sie und nehmen so unseren Kindern die Chance zu lernen?
Kinder begleiten ist nicht leicht
Eigentlich sollte es in unserer Natur liegen, Kinder im Umgang mit ihren Emotionen zu begleiten. Warum ist es dann so schwer? Diese Frage hat mich in letzter Zeit sehr beschäftigt. Meine Theorie dazu ist, dass wir so aufgewachsen sind, funktionierende Menschen zu sein. Gefühle bitte nur in romantisch und hinter verschlossenen Türen. Offene Emotionen, egal welcher Art, werden oft negativ kommentiert.
Und so kämpfen wir beim Kinder Begleiten an vielen verschiedenen Fronten: wir kämpfen gegen unsere inneren Glaubenssätze, mit denen wir aufgewachsen sind. Wir kämpfen gegen die gesellschaftliche Norm. Wir kämpfen dagegen an, die Gefühle des Kindes nicht zu unseren zu machen. Wir kämpfen gegen unsere Verletzungen in der Kindheit, gegen jedes „jetzt sei doch ruhig!“. Wir versuchen in der Liebe zu bleiben. Und wenn die Emotion begleitet ist und das Kind bereit für unsere Umarmung, dann fühlen wir uns leer. Akku alle. Denn dieser innere Kampf ist schwer. Und nein, es gelingt mir nicht immer, mich zu befreien und Emotionen zu begleiten. Es fällt mir auch nicht leicht, meine Emotionen zu äußern, ohne meine Mitmenschen zu verletzen. Denn zu oft werden Gefühle gesammelt und brechen sich dann in einem Sturm bahn, der keinerlei Rücksicht auf andere nimmt. All das gehört zum Begleiten dazu. Gefühle erkennen- die des Kindes und die eigenen-, benennen und ertragen. Eigene und gesellschaftliche Glaubenssätze anschauen und hinterfragen, Gegenwind aushalten.
Emotionen der Kinder begleiten
Mit jedem begleiteten Gefühlssturm, mit jedem Kommunizieren der Gefühle und ihrer Verdeutlichung lernen wir uns selbst besser kennen. Wir lernen, wie sich die Emotionen anfühlen und wo wir sie fühlen. Wenn wir unsere eigenen Gefühle zulassen können, können wir auch unsere Kinder besser verstehen und kommen so wieder in engeren Kontakt zu ihnen. Keiner ist perfekt. Gleichzeitig sind die Erfahrungen, die man beim Begleiten sammeln kann äußerst wertvoll und für die persönliche Entwicklung ein starker Motor. Versuche es, denn es kann nichts Schlimmes dabei passieren.